Tagungshaus
Da sitzt die Familie auf der heimischen Couch und lässt sich die Tiefkühlpizzen, mehrere Beutel Obst und ein paar Packungen Windeln für die Jüngsten frei Haus liefern. Der Online-Versandhändler Amazon bietet einen solchen Bringdienst bereits in einigen deutschen Städten an, wie die Journalistin Julia Friedrichs beim Querdenker-Abend in der Kommende schilderte. Dass die Waren aus dem Lebensmittelbereich per Internet geordert werden, entwickelt sich offensichtlich zu einem prosperierenden Markt, wobei auch der stationäre Einzelhandel längst immer mehr Bringdienste auf den Weg schickt. Im Gespräch mit Kommende-Dozent Richard Geisen nannte die Buchautorin noch weitere so genannte Serviceleistungen, die über Internet-Plattformen vermittelt und immer häufiger in Anspruch genommen werden – beispielsweise Babysitten, Putz- und Haushaltshilfen, Fahrdienste. Was aber macht solche Tätigkeiten, die zunächst einmal unverfänglich erscheinen und auch für das Zusammenleben dienlich sind, so brisant? Julia Friedrichs nannte eine Reihe von durchaus kritikwürdigen oder beachtenswerten Aspekten:
Zunächst einmal handelt es sich, um Dienste, die sehr stark in die Privatsphäre eindringen oder anders formuliert: Familien respektive Lebensgemeinschaften lassen Dritte Arbeiten in sehr persönlichen Bereichen erledigen.
Bei nahezu allen Diensten dieser Art handelt es sich um ein in sich geschlossenes System, das den beschäftigten Frauen und Männern weder Aufstiegschancen bietet noch Qualifikationen vermittelt. Das macht es schwer, sich mit dieser Berufserfahrung irgendwann in anderen Branchen zu bewerben oder zu ihnen hinüberzuwechseln.
Die Frauen und Männer werden in der Regel schlecht bezahlt, wobei die Mindestlohnregel meistens nicht ausgehebelt wird. Aber: Die Dienstleistungen werden in großer Zahl von Internetportalen angeboten, bei denen die Arbeitskräfte entweder direkt beschäftigt oder als Selbstständige tätig sind. Für letztere gilt die Gesetzesvorschrift des Mindestlohns nicht. Von den Mitarbeitern ist wiederum bekannt, dass sie von ihrem Lohn 15 bis 20 Prozent an das Portal abgeben müssen, weil es schließlich für sie die Aufträge einholt.
Die Zeitsouveränität, die oft als Pluspunkt für die Mitarbeiter genannt wird, ist bei näherer Betrachtung doch eher zweifelhaft. Die Beschäftigten können nämlich meist nicht frei über ihre Zeit verfügen, sondern müssen sich nach den Aufträgen richten, die das Portal einwirbt. Am Ende können die Frauen und Männer ihr Familien- bzw. Privatleben kaum noch planen.
Online-Vermittlungsportale wie Helpling, Deliveroo, Foodora, Freshundclean, die Haushaltshilfen und viele andere sind jedoch nicht die einzigen, die die totale Flexibilisierung von Arbeitszeiten vorantreiben. Auch große Einzelhandelsunternehmen, etwa die Modekette H&M, nutzen die entsprechenden gesetzlichen Regelungen zum kapazitätsorientierten variablen Abruf von Arbeitsstunden bei ihren Festangestellten.
Es sind aber nicht nur die schwankenden Arbeitszeiten, die den Alltag der Betroffenen beeinträchtigen. Noch massiver, so berichtet die Journalistin, sind die finanziellen Folgen. In einer Untersuchung, die sie selbst bei einem großen Unternehmen durchgeführt hat, kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Löhne von einem zum anderen Monat um 1.000 Euro variieren können, da die Mitarbeiter nach tatsächlich geleisteten Stunden bezahlt werden. Angesichts solcher Unsicherheiten weigern sich manche Hausbesitzer gar, die nach diesem Modell Beschäftigten als Mieter aufzunehmen.
Österreich zeigt, dass es im Einzelhandel auch ohne Arbeit auf Abruf ginge. Sie ist, so Julia Friedrichs, im Nachbarland schlichtweg verboten. Leider fehle bei den großen Parteien im deutschen Bundestag bisher der politische Wille, auch hier das Teilzeit- und Befristungsgesetz (§ 12) entsprechend zu ändern.
Bei den Internetplattformen würde aber selbst das nicht greifen, da es hier meist keine Arbeitgeberseite im eigentlichen Sinn gebe. Die Plattformen zögen sich auf ihre Vermittlerfunktion zurück. Oft würden die Servicekräfte als Soloselbständige geführt, für die keinerlei Verpflichtungen übernommen würden.
Inzwischen gebe es aber auch Zusammenschlüsse der Beschäftigten, in Großbritannien habe es sogar erste Streiks gegeben. Ziel seien u.a. Vereinbarungen über Sozialversicherungsleistungen, die Vergütungshöhe und eine verlässliche Auftragsvergabe.
Schließlich gab Julia Friedrichs zu bedenken, welch grundlegender Mechanismus sich bei den Online-Buchungen solcher Dienste abspiele. „Man legt“, so stellte sie heraus, „die Servicekräfte in den Warenkorb.“ Der Verbraucher, der sich beispielsweise ein leckeres Omelett übers Internet bestellt, macht sich nach Einschätzung der Journalistin wohl meist mehr Gedanken über Wohl und Wehe der Hühner, von denen die jeweils verwendeten Eier stammen, als über die wechselnden Personen, die die bestellten Waren bringen bzw. den gewünschten Service jeweils ausführen.
Kleines Anzeichen für die Entpersönlichung der Servicekräfte: Angesichts der ständig wechselnden Personen, die von Seiten des Online-Portals für die bestellten Putz- oder Betreuungsdienste vermittelt werden, sei man schon nach kurzer Zeit verführt, nur noch vom „Helpling“ zu sprechen, anstatt sich die verschiedenen Namen zu merken.
In der sehr lebhaften anschließenden Diskussion unter den knapp 90 Anwesenden ging es u.a. um die Fragen, welche Bereiche personennaher Dienstleistungen vor dieser extremen Form der Privatisierung, Anonymisierung und Verbilligung geschützt werden müssten und welche Art der Regulierung (Beispiel Mindestlohn) zu einer gerechten Bezahlung und Begrenzung der Flexibilisierung beitragen kann.
Theo Körner, Dortmund