Tagungshaus
„In der Flüchtlingspolitik braucht es einen großen Wurf statt kleinlicher Polemiken. … Im Vordergrund sollte die Bekämpfung der Fluchtursachen stehen.“ Domkapitular Dr. Thomas Witt, Vorsitzender des Caritasverbands für das Paderborn e.V., und Dr. Andreas Fisch vom Sozialinstitut Kommende Dortmund, beziehen in der aktuellen Ausgabe der Herder Korrespondenz (2/2018) Position zur Flüchtlingspolitik. Dabei erfährt die Meinung von Reinhard Merkel, prominenter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, eine fundierte Kritik. Merkels These, die er wiederholt in F.A.Z. und Welt geäußert hat, lautet, dass die Integrationspolitik durch eine günstigere Hilfe außerhalb Europas ersetzt werden sollte und er begründet so eine „Obergrenze von 0“. Zugleich schürt er Angst vor Überfremdung.
Der angsterzeugenden Drohung der „Massenmigration“ setzen die Autoren Witt/Fisch die Zahlen des UNHCR entgegen, dass selbst in den Jahren 2015 und 2016 überhaupt nur ein kleiner Teil der weltweit Geflüchteten Europa erreicht hat: „Fehlen jedoch migrationsermöglichende Voraussetzungen, macht dies Migration selbst bei Inkaufnahme der Gefahr für Leib und Leben unmöglich.“ Und: „Das Bild von den vielen Millionen, die ‘auf gepackten Koffern‘ säßen, stimmt eben nicht, denn - um im Bild zu bleiben - sie können sich den Koffer gar nicht leisten, den sie zur Reise benötigen. Das realistischere Szenario einer Bevölkerungszunahme in Afrika sind Hungersnöte in statt Massenflucht aus Afrika.“ Desweiteren verkennt Merkel die vorrangigen Fluchtgründe. „Meistens stammen die Flüchtlinge sowieso aus lebensbedrohlichen Gefährdungen, die nicht mit der Gabe von einigen Euros besänftigt werden: der Bürgerkrieg in Syrien, die Folgen der militärischen Intervention in Libyen durch NATO-Staaten …“.
Die Autoren plädieren stattdessen für Krisenprävention: „Angesichts der konflikt- und gewaltbasierten Fluchtursachen käme der Krisenprävention als vorrangiges Instrument eine wichtige Rolle zu. Krisenprävention umfasst alle Politikfelder, von der globalen Finanzarchitektur über Entwicklungshilfe bis zur Konfliktvermeidung. Dieser Kontext ist jedoch notwendig, um zu kostengünstigeren Lösungen zu kommen und nationale Interessen global vernünftiger zu vertreten.“
Witt/Fisch kritisieren die Verknüpfung globaler Hilfe mit der Flüchtlingsaufnahme scharf: Erwägungen zum Mitteleinsatz „gehören in die Debatte um Entwicklungszusammenarbeit, um die Gestaltung der Weltwirtschaftsordnung, der Krisenprävention, der finanziellen Unterstützung von Flüchtlingslagern anderswo usw. Es sei in Erinnerung gerufen: Die ausbleibenden Zahlungen für den UNHCR und für das Nahrungsmittelprogramm Ende 2014 und 2015 haben die Versorgung der dort aufgenommenen Flüchtlinge massiv beschnitten. Erst diese dramatische Verschlechterung der Lebenslagen hat Flüchtlinge zur Weiterwanderung aus diesen Flüchtlingslagern nach Europa motiviert. Zum damaligen Zeitpunkt hätten Überlegungen zu einem effizienteren Mitteleinsatz motivieren sollen, im langfristigen, auch kostenbewussten Eigeninteresse der Industrieländer ihre Zusagen gegenüber dem UNHCR einzuhalten.“ Bei den Aufwendungen für die Flüchtlingsaufnahme bezieht sich Merkel auf Szenarien für die alljährliche Aufnahme von einer Million Flüchtlingen. Die Flüchtlingszahlen in Deutschland sind jedoch inzwischen merklich auf unter 175.000 gesunken. „Diese eingesparten Mittel von jährlich 35 Milliarden Euro sollte die deutsche Regierung für die geforderte globale Hilfe verwenden“, geben die Autoren Merkel nach seiner eigenen Logik zu bedenken, würden jedoch einer Finanztransaktionssteuer den Vorzug als Finanzierungsinstrument geben.
Bezüglich des Überfremdungsvorwurfs geben Witt/Fisch zu bedenken, dass in den Jahren 2015/2016 insgesamt 11 Muslime auf 1000 Deutsche kamen. Innerhalb der insgesamt maximal 6 % Muslime in Deutschland würden außerdem die gut integrierten Personenkreise vernachlässigt. Besonders kritisieren sie Merkels bloß rhetorischen Trick, den Schutz der einheimischen Kultur als vernachlässigt gegen den Schutz von Minderheiten auszuspielen. „Der kritisierte Schutz der Kultur von Minderheiten bedeutet ‚ihre Kultur leben dürfen‘, während der Schutz für die Mehrheitsgesellschaft durch Ausgrenzung (vermeintlich) anderer Kulturen erreicht werden soll (so Merkel). Genügt es nicht, dass auch die Mehrheitsgesellschaft ihre Kultur(en) leben darf? Kultur lebt davon, dass sie gelebt, verändert und anders weitergeführt wird, aber sie lässt sich weder staatlich vorschreiben noch durch Ausgrenzung anderer Kulturen absichern.“ Daran anschließend fordern sie einen „Wandel von religionsfixierten Mythen zur Identifikation echter Probleme“ und belegen dies anhand einer Reihe exemplarischer Beispiele, in denen differenzierte Analysen zu angemesseneren Lösungen führen: Schule, Wohnviertel, Kriminalität. „Alle diese Phänomene aber einseitig verkrampft und unzutreffend mit ‚dem Islam‘ oder ‚den Ausländern‘ erklären zu wollen, lenkt von den tatsächlich vorfindlichen Problemen und ihren Ursachen ab und verhindert eine Lösungssuche an der richtigen Stelle. Lösungen erfordern mal den Polizeieinsatz, brauchen ein andermal aber eher eine gute Quartiers- und Sozialpolitik und haben manchmal einen ehrlichen interreligiösen Dialog nötig.“ Ihr Zugang jenseits ideologischer Einseitigkeiten „links“ wie „rechts“ drückt sich auch in ihrem Diktum aus: „Weder Zweckpessimismus noch Zweckoptimismus helfen weiter. … Eine Weltflüchtlingskonferenz zu initiieren kann helfen, effizientere, weil präventive Instrumente zu finden, um Zwangsmigration zu vermeiden. … Not vermeiden und Not lindern, beide Aspekte sollten fester Bestandteil europäischer Identität werden.“
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