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The Conference House
Jetzt ist es doch so gekommen, wie schon zu befürchten war. Der jetzt verhängte strenge Lock-down stellt uns alle noch einmal vor besondere Herausforderungen, wenn wieder Flexibilität, Improvisationskunst und auch Verzicht gefragt sind.
Es wird vermutlich ein recht stilles Weihnachten. Umso mehr wünsche ich uns allen, dass in all den Widrigkeiten doch durchdringt, dass Gott, wie vor 2000 Jahren in einem Stall, so auch heute Wege findet, um bei uns anzukommen. Daran kann ihn auch kein Lock-down hindern. Daran erinnert mich jene Geschichte, die mir ein guter Freund dieser Tage erzählt hat:
Moritz ist fünf Jahre alt. Mit seinen Eltern lebt er in Rom. Im März regiert dort der strenge Lock-down. Die Regierung hat ihn zum Schutz der Bevölkerung verhängt. Die Pandemie wütet im Land. Corona hat die ewige Stadt fest im Griff.
Die Regelungen für den Alltag sind hart und verändern auch für Moritz die Welt: Er darf das Haus nicht verlassen! Nur wer einen triftigen Grund angeben kann, darf vor die Tür: niemanden treffen, nicht auf den Spielplatz gehen und rennen und klettern und mit anderen herumtoben; keine KiTa, die Freunde nicht sehen, nicht spielen. - Für Moritz bricht eine Welt zusammen. Er stellt das Sprechen ein. Keiner weiß, was in seinem Kopf vorgeht. Das Kind verstummt, sagt kein Wort mehr.
Eines Abends geht Moritz zur Garderobe und greift nach seiner Jacke. „Ich gehe jetzt raus!“ Er und sein Vater unternehmen den ersten Spaziergang seit langem: eine Runde um den Häuserblock. Wieder in der Wohnung sagt der kleine Junge: „Was bin ich froh, dass es die Häuser noch gibt und die Straßen!“ – Fast wäre ihm die Welt verloren gegangen, schlichtweg „untergegangen“, würden wir wohl sagen. Wieviel Angst muss der kleine Kerl gehabt haben.
Je länger ich über diese wahre Begebenheit nachdenke, desto mehr kommt mir zu Bewusstsein, dass sie auch viel über uns selbst sagen könnte. Was bin ich froh, dass es die Häuser, und Straßen noch gibt, die Menschen, mit denen ich zusammenlebe, zusammenarbeite, die ich beim Bäcker und in den Sekretariaten treffe, auf der Straße und im Supermarkt, mit denen ich über Social Media oder per Video-Konferenzen verbunden bin und noch einmal tiefer verstehe, was Freundschaft, Verbundenheit, Gemeinsamkeit ist.
Mir scheint, dass wir erst in dieser Extremsituation merken, was uns fehlt, was sonst unser Miteinander, unser soziales, gesellschaftliches Leben ausmacht:
Wir leben von und mit Beziehungen, von zwischenmenschlichen Kontakten: dem Gespräch, dem persönliche Austausch ebenso wie von dem alltäglichen Small Talk, der Umarmung … - All das geht mit einem Mal nicht mehr. Und es fehlt uns.
Weihnachten weckt in uns die Sehnsucht nach Geborgenheit, Familie, Zusammenhalt. Nach Harmonie. Es ist doch bezeichnend, dass die ganze Politik der letzten Wochen darauf ausgerichtet war, dass wir uns als Gesellschaft noch einmal an den Riemen zu reißen, damit wir Weihnachten als ein Fest der Familie feiern können – auch wenn es für manche von uns sehr einsam wird.
Als ich zusammen mit meinem Bruder vor zwei Wochen meinem Vater im Altenheim zum Geburtstag gratulieren wollte – er ist gerade 99 Jahre alt geworden -, war das nicht möglich, weil wir dann ja aus drei Haushalten waren. Also haben wir ihn sukzessive besucht.
Tags darauf sagte er mir am Telefon: „Ich werde mehr und mehr allein sein“ – keine Besuche schon innerhalb des Hauses, kaum Besucher, die noch hineingelassen werden. Und vor allem keine Menschen, mit denen man vernünftig reden kann. – Seine Sehkraft ist stark eingeschränkt, so dass er kaum noch lesen kann, und nur noch Fernsehen ist eben auch kein Ersatz. Von den Augenärzten, die er konsultiert hatte, bekam er nur ein herablassendes „Herr Klasvogt, wie alt sind Sie?“ zu hören.
Da habe ich erfahren, was Freundschaft ist: Vater hatte ich kurzentschlossen nach Dortmund in die Augenklinik geholt. Der Chef der Klinik, ein guter Freund, hat ihm dann doch noch Hoffnung auf eine Lupen-Lesebrille machen können – das schönste Weihnachtsgeschenk für ihn.
Mir geht oft ein Wort nach, das ich bei Mitch Albom gelesen habe. Er besucht jeden Dienstag seinen alten Professor, der schwer krank und weiß, dass er bald sterben muss. Eines Dienstags sagt Morrie zu ihm:
„Am Anfang des Lebens, wenn wir kleine Kinder sind, brauchen wir andere zum Überleben, nicht wahr? Und am Ende des Lebens, wenn du so wirst wie ich, brauchst du andere zum Überleben, nicht wahr?“ Seine Stimme sank zu einem Flüsterton. „Aber das Geheimnis ist: Dazwischen brauchen wir die anderen ebenfalls.“ (Mitch Albom, Dienstags bei Morrie)
Mir scheint, dass wir in den Monaten der Pandemie diese Lektion wieder neu lernen. Und ich würde mir wünschen, dass diese Erfahrung eigener existenzieller Bedürftigkeit uns auch sensibler macht für die Bedürftigkeit des anderen. Dass wir die Spielräume nutzen, die wir haben, um dem anderen ein Zeichen des Mitgefühls zu senden, des Trostes, der Verstehens. Telefon, Email, What‘s-App oder auch die schöne alte Tradition des Briefeschreibens, kleine Geschenke zu versenden … -
Viellicht noch ein Beispiel: Ich hatte Vater zum Geburtstag ein Konzert der Nordwestdeutschen Philharmonie geschenkt. Das Konzert war natürlich abgesagt. Aber wenn wir nicht ins Konzert gehen, kommt das Konzert zu uns. Also habe ich meinen Laptop genommen und ihm auf YouTube die 1. Sinfonie von Beethoven vorgespielt. Den Glanz, der sich auf sein Gesicht legte, als er den Dirigenten, die einzelnen Musiker so nah sah und sich im Takt der Musik wiegte, werde ich so schnell nicht vergessen.
Es gibt so viele Möglichkeiten des An-denkens, der gegenseitigen Bestärkung, berührende Anteilnahme, Gesten der Menschlichkeit. Das käme dem Geheimnis der Weihnacht überraschend nah. Damals wie heute.
So wünsche ich uns allen, dass uns auch in diesen Tagen die Welt nicht verloren geht, vor allem aber nicht die Menschen, mit denen wir verbunden sind, auch wenn wir sie nicht treffen können.
Ihnen allen ein "beruhigtes", aber doch erfüllendes Weihnachtsfest und ein heilsames Jahr, in dem wir irgendwann auch von dem tödlichen Virus befreit sein werden. Bleiben wir einander gewogen!
In adventlich-erwartungsvoller Zuversicht!
Ihr
Peter Klasvogt