23.11.2021

Mit geregelter Humanität die Erpressbarkeit abstreifen

Diktator Lukaschenkow setzt, wahrscheinlich mit tatkräftiger Unterstützung von Präsident Putin, die EU unter Druck, indem er Flüchtlinge an die polnisch-belarussische Grenze bringen und brutal behandeln lässt: Er lässt sie misshandeln, hungern und frieren. Die EU gerät erheblich unter Druck, entweder ihre Werte zu verraten, indem sie die unwürdige Behandlung von Menschen hinnimmt. Oder mit einem Diktator direkt zu verhandeln. Lukaschenkow wehrt sich mit dieser Strategie auf die Sanktionen der EU, die auf seine gewalttätige Niederschlagung von Protesten in Weißrussland reagiert.

Erpressbar ist die EU an dieser Stelle vor allem, weil sie seit über einem Jahrzehnt keine gemeinsame Linie in der Migrationspolitik entwickeln konnte. Vor allem jene, die Zuwanderung als „Invasion“ diffamieren, spielen dieser Strategie zu und schwächen die EU. Denn aussichtsreich ist das Vorgehen vom Diktator von Belarus nur dann, wenn es bereits innere Spannungen und Unstimmigkeiten gibt, die sich anfachen lassen. Zur Erinnerung: Not und Elend lassen wir überall auf der Welt zu, manchmal hilflos, weil die Einflussnahme nur indirekte Instrumente wie das der Sanktionen zur Hand hat.

Wie könnte die EU sich hier herauswinden? Der wichtigste Schritt wäre sich auf eine Flüchtlingspolitik zu einigen, bei der die eigenen Werte und das europäische Handeln deckungsgleich sind. Die Europäische Union könnte sich auf ein festes Kontingent aufzunehmender Flüchtlinge einigen. Damit könnten die humanitäre Verpflichtung und die Begrenzung der Hilfskapazitäten versöhnt werden. Eine feste aufzunehmende Größe an Flüchtlingen hätte zudem zahlreiche Vorteile: Eine jährlich verlässlich aufgenommene, also kalkulierbare Anzahl von Flüchtlinge träfe auf ein dazu passendes und optimal ausgelastetes Arrangement von Institutionen zur Aufnahme und Integration. Über den UNHCR könnten vor allem anerkannte Flüchtlinge aufgenommen werden. Besonders Schutzbedürftige, Frauen und Kinder könnten ausgewählt werden. Durch die aktive Aufnahme würde die tödliche Überfahrt über das Mittelmeer vermieden, vielen Schleusern die Geschäftsgrundlage entzogen. Insgesamt würde der Aufnahmeprozess geregelter ablaufen. Außerdem hätte die EU mit einem regelmäßigen festen und angemessenen hohen Kontingent von Flüchtlingen, die sie aufnimmt, einen sozialethisch relevanten Grund, an den Grenzen keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen. Die bereits kontinuierlich erfolgende Aufnahme würde die dafür vorhandenen (oder: politisch bereit gestellten) Kräfte zur Hilfeleistung bereits beanspruchen. Manche Migrationsbewegung würde nicht mehr erfolgen, sondern über die Aufnahmeeinrichtungen der UNHCR laufen. Erpressung würde ins Leere laufen und deshalb wahrscheinlich unterbleiben. Und mit dieser Aussicht könnte die EU die 4000 Flüchtlinge an der Grenze einmalig aufnehmen und aus ihrer doppelten Not befreien.

Andreas Fisch