11.02.2022

Grenzen überschreiten

Grenzen akzeptieren lernen: das ist ein wichtiger Grundsatz in der Jugend- und Entwicklungspsychologie. Wer etwa Kindern in der Trotzphase Grenzen aufzeigen muss oder erlebt, wie sehr sich pubertierende Teenager an Grenzen reiben, der weiß, wie mühsam dieser Einsichts- und Erkenntnisprozess für alle Beteiligten ist. Aber dies ist ja beileibe nicht nur eine Reifeprüfung im Kindes- und Jugendalter: Akzeptanz der eigenen Grenzen, Annehmen der eigenen Begrenztheit bleibt eine Lebensaufgabe bis ins hohe Alter, insbesondere dann, wenn schmerzlich erfahren wird, was nicht mehr geht, was gestern vielleicht noch gegangen ist.

Wie schwer es fällt, die eigenen Grenzen zu akzeptieren, zeigt sich – wie derzeit zu besichtigen - auch auf der geopolitischen Bühne, im Muskelspiel und Säbelrasseln der politischen Mächte. Doch aus dem Spiel, dem Erproben der eigenen Möglichkeiten wie dem Austesten der Widerstandskräfte der gegnerischen Kräfte, kann plötzlich blutiger Ernst werden. Dabei muss man nicht unbedingt die große Keule herausholen, wenn in der asymmetrischen und psychologischen Kriegsführung ein ganzes Arsenal von verdeckten Operationen zur Verfügung steht, angefangen von Cyberattacken, Sabotageakten, gezielter Desinformation oder, wie im Donbass geschehen, der trickreichen Austeilung russischer Pässe, um als Schutzmacht für dann russische Staatsbürger militärisch eingreifen zu können. Die Aufrüstung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze, die Drohgebärden militärischer Übungen im Krisengebiet und die entsprechenden Reaktionen einer aufgeschreckten Nato lassen Erinnerungen an 1914 wachwerden, als die politischen Akteure wie „Schlafwandler“ (Christopher Clark) leichtfertig agiert und damit den Ersten Weltkrieg heraufbeschworen haben.

Grenzen akzeptieren, das fordert zuerst und fundamental zu realitätspolitischem Denken heraus: die territoriale Begrenztheit zu akzeptieren und nicht nostalgisch-illusorischen Großmachtsphantasien nachzuhängen, geschweige denn realpolitisch wieder daran anknüpfen zu wollen. „Phantomschmerz tut weh“, so diagnostizierte Wladislaw L. Inosemzew die Bestrebungen im Kreml, die Kontrolle über das ehemalige russische sowjetische Imperium zu bewahren und die Souveränität ehemaliger Teilrepubliken zu verhindern. „Jedes grössere westeuropäische Land musste sich von seinen kolonialen Ambitionen verabschieden. Das ging nicht ohne äussere und innere Pein, doch schliesslich fand man gemeinsam zu einer Kultur der Niederlage“. (NZZ, 3.1.2022). Doch erst die Einsicht in die Begrenzung eigener territorialer Ansprüche und die Anerkennung souveräner nationaler Staaten ermöglicht die Grenzüberschreitung, die Sicherung des Friedens und Prosperität der Völker. Die Europäischen Union ist dafür beispielgebend. So wird die Kultur der Niederlage, die Akzeptanz des Verlusts, zu einem Akt der Befreiung. Eine alte Weisheit, was schon die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte auf den Punkt gebracht haben: Quod nun est assumptum, non est redemptum - Was nicht angenommen ist, ist auch nicht ge- bzw. erlöst.

Peter Klasvogt