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The Conference House
Berlin im Ausnahmezustand. Die Rede ist nicht von Krawallnächten an Silvester oder zum Ersten Mai (der kommt erst noch), auch nicht von No-Go-Areas im Wedding oder anderswo; schon gar nicht von lange zurückliegenden Berlin-Blockaden zu Zeiten der sowjetischen Besatzungsmacht. Es sind schlicht kompromisslose Klima-Kleber der selbsternannten „Letzten Generation“, die derzeit mit Straßenblockaden eine ganze Stadt lahmlegen. Selbst bei den durchaus Chaos erprobten Berlinern stoßen diese Protestaktionen auf massiven Widerstand und sorgen eine aufgeheizte Stimmung.
Man mag Verständnis haben, wenn Aktivisten vor einem drohenden Klimanotstand und einer apokalyptischen, nicht mehr beherrschbaren Zukunft warnen. Doch rechtfertigt Verzweiflung schon die Selbstermächtigung zu zivilem Ungehorsam und (vermeintlichen) Notstandshandlungen? Wer sich in seiner Wirklichkeitsdeutung als Opfer staatlicher Untätigkeit und der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft fühlt, erhebt zugleich den Anspruch moralischer Überlegenheit und sieht sich ermächtigt, als Missionar und Kämpfer den anderen seine Wahrheit nahezubringen, aufzunötigen – etwa durch Sitzblockaden.
„Wer jedes Detail mit dem Überleben der Menschheit assoziiert, ist immer im Recht“, so der Soziologe Armin Nassehi, und dem ist auch jedes Mittel zur Durchsetzung seiner (vermeintlichen) Wahrheit recht. Doch so ehrenwert, subjektiv betrachtet, die Motive auch sein mögen: das Muster war und ist immer dasselbe: „Ich und meine Wahrheit“, und je mehr dieser Wahrheit absolute Geltung zukommt, desto mehr fühlt sich der Wahrheitskämpfer gedrängt, ja verpflichtet, dieser „seiner“ Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Doch „es gibt keine totalitäre Form des Richtigen“, so Armin Nassehi, denn jede eschatologische Diagnose muss sich notgedrungen „mit der Forderung nach geradezu absolutistischem Durchregieren verbinden“. Dazu legitimiert auch nicht die „Wir haben aber keine Zeit“-Argumentation, denn sie beschränkt jeden Handlungsspielraum. „Wer sagt, wir hätten keine Zeit, will damit das Durchregieren legitimieren“, so Nassehi, auch wenn die tatsächlich bisweilen knapp ist. Doch es ist ja gerade die zivilisatorische Errungenschaft der Gewaltenteilung, die den absoluten Durchgriff vermeiden hilft.
Wenn daher die Klimakleber im Brustton der Überzeugung davon singen, die „Samen“ einer neuen Kultur des Miteinanders zu sein: "We are the seeds", dann sollten sie dies auch im Miteinander unter Beweis stellen, gerade auch mit denen, die anderen Meinung sind.
Warum es in der Klimadebatte mehr Dialog und weniger Konfrontation benötigt, erläutert Peter Klasvogt in seinem Stand•PUNKT.