12.03.2025

Der innere Raum: befrieden statt (brand)mauern

Haben wir eine psychosoziale Pandemie? Meine Wahrnehmung ist: Psychische Erkrankungen in Organisationen und im Öffentlichen Raum sind auf Höchststand und nehmen weiter zu. Das könnte mit der Qualität unserer Beziehungen zu uns selbst und zu anderen zu tun haben. Im Idealfall leben wir von Kind auf in gesunden sozialen Bezügen, sind ‚bindungssatt‘ und gerade dadurch beziehungsfähig. Unsere psychosoziale Situation könnte aber auch mit innerem und äußerem Frieden, mit Freiheit und mit Wahrhaftigkeit zu tun haben.

„Frieden ist nur durch Freiheit, Freiheit nur durch Wahrheit möglich.“ Auf dem Fundament dieser Einsicht erkannte Karl Jaspers 1958 die „Unwahrheit als das eigentlich Böse, jeden Frieden Vernichtende: …von der Lüge bis zur inneren Verlogenheit, von der Gedankenlosigkeit bis zum doktrinären Wahrheitsfanatismus, von der Unwahrhaftigkeit des einzelnen bis zur Unwahrhaftigkeit des öffentlichen Zustandes.“ Ähnlich Goethe, der bereits einhundertdreißig Jahre zuvor in den Gesprächen mit Peter Eckermann den Fokus ebenso auf Wahrhaftigkeit legte: „Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.“

Die Wahrheit scheint also nicht zwangsläufig auf Seite der Mehrheit zu liegen. Wo sie nicht gänzlich geleugnet wird, kann sie nur gemeinschaftlich und annäherungsweise in aufrichtiger Kooperation erkannt werden. Durch einen nie abgeschlossenen Erkenntnisprozess in einem breit gefächerten Debattenraum in größtmöglicher Perspektiven- und Meinungsvielfalt.

Sich auf eine rechte oder linke Seite drängen zu lassen ist wenig hilfreich. Besser ist es, jedem (!) Beteiligten gegenüber eine allparteiliche Haltung des aufrichtigen erkundenden Interesses einzunehmen. In Fassadenfreiheit, mit Wertschätzung und in größtmöglicher Empathie. Wir brauchen mehr echtes Bemühen um wechselseitiges Verständnis. Es kann nicht sein, dass wir uns moralisch überlegen fühlen, nur weil jemand eine andere Meinung vertritt als wir. Je heftiger unsere Abwehrreaktion, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass wir unbewusst spüren: Der andere könnte Recht haben. Denn andernfalls blieben wir ruhig und sagten: „Das ist in Ordnung, dass Du das so siehst, ich habe aus den und den Gründen eine andere Meinung. Wollen wir mal darüber sprechen?“ Eine emotional heftige Reaktion nährt den Verdacht, dass der Gekränkte spürt, eine Pseudo-Wahrheit (Josef Piper: Pseudo-Realität) verinnerlicht zu haben und Angst hat, dass Teile seines Weltbildes zusammenbröseln.

Das Geschehen im äußeren Raum sollte also mit dem inneren Raum abgeglichen werden. Diesen inneren Raum gilt es in sich zu erkennen und zu kultivieren. Der Weg ist, die Wahrnehmung nach innen zu richten und Aufmerksamkeit zu investieren, d.h. eine Art ‚Karriere nach innen‘ zu realisieren. Der innere Raum manifestiert sich dann nicht lediglich als Ruhe- und Kraftquelle oder möglicherweise auch als Ort der Kommunion. Er kann in Krisenzeiten als allparteilicher Referenz-, Halte- und Ankerpunkt dienen und dort Gelassenheit vermitteln wo andere in Verleugnung, Abwehr und Stress geraten. Ein harmonisierender Abgleich beider Räume wirkt vor allem auch gesellschaftlich-kulturell präventiv.

Denn leider waren diejenigen, die sich in der Geschichte der Menschheit für die Guten hielten, es tatsächlich oft am allerwenigsten. Diese fühlten sich häufig nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet zu allen möglichen Schandtaten dieser Welt. Denn es geschah ja im Namen des Guten. „Wenn klar ist, wer der Feind ist, dann hat der Tag Struktur.“ (Volker Pispers)

Brandmauern haben etwas Totalitäres. Demokratie lebt von Widerspruch und Opposition. Wir brauchen weniger Kampfbegriffe und mehr Ambiguitätstoleranz. Gemeint ist die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen wahrzunehmen und zu ertragen ohne darauf spontan ablehnend oder positiv zu reagieren. Die schlimmste Form der Zensur ist die Selbstzensur. Wer Demokratie dadurch zu retten versucht, dass er die größte Oppositionspartei verbieten möchte, sollte sein eigenes Demokratieverständnis in aller Aufrichtigkeit überprüfen.

Die Wahrheit kann uns frei machen. Nicht von allein; sie will gemeinschaftlich erkannt und beherzigt werden.