24.03.2022

„Bleiben Sie gesund“?

Gesundheit: Wir können sie versichern, uns wünschen, dafür beten – einen Anspruch darauf haben wir nicht. Sie ist unverfügbar. Doch besonders in den letzten beiden Jahren hat das Gut „Gesundheit“ einen neuen Stellenwert erlangt. Durch die Corona-Pandemie ist das Thema Krankheit täglich präsent. Am Ende vieler Emails steht „Bleiben Sie gesund!“, fast schon als Synonym zu „Mit freundlichen Grüßen“. Ob empathischer Wunsch oder inhaltsleere Floskel: Der Satz entbehrt jeder Verankerung in der Realität. Denn: Mehr als jeder zweite Deutsche ist chronisch krank, leidet an Krebs, Autoimmunerkrankungen, psychischen und neurologischen Störungen oder Krankheiten des Herz-Kreislaufs-Systems.

Und doch wird Gesundheit zur Norm erklärt, von dem alles „Kranke“ abweicht. Der Lyriker Paul-Henri Campbell hat für dieses Phänomen (in Anlehnung an Judith Butlers Begriff der Heteronormativität) das Wort „Salutonormativität“ entwickelt: Wir betrachten die gesellschaftliche Wirklichkeit in all ihren Dimensionen in einer Art und Weise, die Gesundheit zur Normalität deklariert und als Maß aller Dinge betrachtet. Jede Abweichung davon wird als mangelhaft und negativ bewertet. Dieses Paradigma durchdringt Kultur, Wirtschaft, Religion und auch Sprache. „Bleiben Sie gesund“ wird zum Imperativ, zum Befehl. Doch was ist in diesem Denken mit denen, die nicht gesund bleiben? Sind das Versager, die es nicht schaffen, systemkonform zu funktionieren? Und wie sollen sich chronische kranke Menschen fühlen, wenn sie aufgefordert werden, „gesund zu bleiben“?

Die Bewertung von Menschen anhand der Beeinträchtigung ihrer Fähigkeiten, Leistung und Vitalität ist diskriminierend. Die Person wird ausschließlich über einen angeblichen Mangel definiert. Doch auch ein kranker Mensch ist in seiner Würde und Personalität ein „ganzer“ Mensch – mit Potenzialen, Talenten und Gaben. Die allerorts geforderte gesellschaftliche Diversität muss sich auch auf das Spektrum „gesund – krank“ beziehen und urteilsfrei den Wert dieser Vielfalt, die Würde jedes einzelnen, anerkennen.

Claudia Schwarz