Tagungshaus
Kürzlich bekam ich eine SMS: „14:43 Uhr: Marie ist da!“ Dazu das Foto eines strampelnden Säuglings, und darunter die Liedzeile „Menschenjunges, dies ist Dein Planet. Hier ist dein Bestimmungsort, kleines Paket.“ Ein Song von Reinhard Mey aus den 70er Jahren, geschrieben nach der Geburt seines ersten Sohnes Frederic. – Was für ein Glück, so anzukommen und so überschwänglich empfangen zu werden! Ich konnte Marie dazu nur gratulieren: zu ihren glücklichen Eltern, die sie erwartet haben, sie lieben und stolz der digitalen Community präsentieren. „Freundliches Bündel, willkommen herein! Möge das Leben gut zu dir sein.“
Da schmerzt die aktuelle Agenturmeldung des Statistischen Bundesamtes, dass es im letzten Jahr 9,9% mehr Schwangerschaftsabbrüche gab. In Zahlen: 104 000 Abtreibungen in 2022. Eine Nachricht, die allerdings bei dem landesweiten Streit über Wärmepumpen, Autobahnausbau und Verdi-Streik kaum durchdringen konnte. Da ist es beschämend, dass just zum selben Zeitpunkt in den nächtelangen Ampel-Diskussionen das Thema der Kindergrundsicherung vertagt wurde. Denn mehr als jedes fünfte Kind ist in unserem reichen Land von Armut bedroht: knapp 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche. Wenn laut Statistik sieben von zehn Frauen (rund 70 %), die einen Schwangerschaftsabbruch 2022 durchführen ließen, im Alter zwischen 18 und 34 Jahren waren, dann wirft die Meldung doch Fragen auf, ob unser Land wirklich so lebens- und kinderfreundlich ist. Wie ist es um Unterstützung und menschlichen Zusammenhalt im primären Lebensumfeld bestellt ist, wenn es wirklich darauf ankommt? Und man mag nur erahnen, wieviel Sorgen und Ängste sich hinter jenen nackten Zahlen verbergen. Wie viele Frauen mit ihrer Entscheidung alleingelassen oder zu diesem Schritt gedrängt werden - und was es heißt, heute einem Kind das Leben zu schenken, eingedenk all der wirtschaftlichen Risiken und unkalkulierbaren Partnerschaften. Da ist es gut, dass es Beratungsstellen gibt, in denen Frauen (mit und ohne Lebenspartner) in solch lebensentscheidenden Situationen Zugewandtheit, Verständnis und Unterstützung erfahren. Angesichts der oft existenziellen Herausforderung und psychischen Belastung in solchen Entscheidungssituationen erscheint es dagegen eher respektlos, wenn die Frage von Schwangerschaft und Abbruch unter dem Aspekt „reproduktiver Selbstbestimmung“ verhandelt werden. Da ist es vielmehr an der Gesellschaft, im Großen wie im Kleinen, ein menschenfreundliches Gesicht zu zeigen und tatkräftig zu unterstützen und jedem sich anbahnenden „Menschenjungen“ zuzurufen: „Möge das Leben gut zu dir sein.“
Was die ansteigende Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen über den Zustand unserer Gesellschaft aussagt, fragt Peter Klasvogt in seinem Stand•PUNKT.