Tagungshaus
Wer bislang gemeint hat, das Christentum sei lediglich eine Religion der Innerlichkeit, der christliche Glaube eine Anleitung zu privater Frömmigkeit und tugendhaftem Leben, muss sich von Papst Franziskus eines Besseren belehren lassen. All das trifft zwar auch zu; doch die Liebe, Essenz des Christlichen, geht immer aufs Ganze (griech. „kat‘ holon“, deswegen „katholisch“). Denn wenn sich ein Einzelner „mit anderen verbindet, um gesellschaftliche Prozesse zur Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit für alle ins Leben zu rufen, tritt er in das Feld der umfassenderen Nächstenliebe, der politischen Nächstenliebe ein“. Ein Papst, der dafür wirbt, „zu einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu gelangen, deren Seele die gesellschaftliche Nächstenliebe ist“ - das sind ungewohnte Töne, erst recht, wenn Franziskus freimütig bekennt, nicht nur von Franz von Assisi inspiriert worden zu sein, sondern auch Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Gandhi und „besonders vom Großimam Ahmad Al-Tayyeb“. Hier zeigt sich eine Weltkirche von Weltformat, die über dem Kleinklein binnenkirchlicher Befindlichkeiten (unbeschadet aller notwendigen Strukturreformen) daran erinnert, dass Gott „alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen und sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben“, („Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“, Abu Dhabi, 5)
Es ist bezeichnend, dass Papst Franziskus dieses neue Lehrschreiben in der Corona-Krise unter dem Eindruck wegbrechender Gewissheiten und Sicherheiten geschrieben hat, in der sich einmal mehr gezeigt hat, dass jeder sich selbst der Nächste ist. Doch es gibt Hoffnung. Denn aus der Erfahrung der Verwundbarkeit reift die Einsicht, dass jetzt die Stunde gekommen ist, um „von einer einzigen Menschheit zu träumen“, in der wir „alle Geschwister“ sind, unabhängig von Kultur, Nation, Religion. Dazu Papst Franziskus: „Gottes Liebe ist für jeden Menschen gleich, unabhängig von seiner Religion. Und wenn er Atheist ist, ist es die gleiche Liebe. Wenn der jüngste Tag kommt […], werden wir viele Überraschungen erleben!“
Dr. Peter Klasvogt
Die Enzyklika "Fratelli tutti" (Über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft) von Papst Franziskus plädiert für eine glaubens- und grenzüberschreitende Sozialutopie. Aus der Erfahrung der Verwundbarkeit - besonders tiefgehend in der Zeit der Corona-Krise - reift die Einsicht, dass jetzt die Stunde gekommen ist, um "von einer einzigen Menschheit zu träumen", die nationale und Einzelinteressen überwindet. In der Enzyklika zeigt sich aber auch eine Weltkirche von Weltformat, die religiöse und weltanschaulich vielfältige Stimmen in sich trägt, die Liebe Gottes für jeden Menschen anerkennt und an die Gleichheit und Geschwisterlichkeit aller Menschen erinnert, kommentiert Direktor Prälat Dr. Klasvogt im Standpunkt.