04.09.2020

Rund um die Uhr im Dienst: Was ist uns Menschenwürde wert?

Es verstößt nicht nur systematisch gegen deutsches Arbeitsrecht, sondern vor allem gegen die Menschenwürde: Seniorenbetreuerinnen im privaten Haushalt 24 Stunden an sieben Tagen die Woche zu beschäftigen. Diese „Live-in-Kräfte“ leben eng mit der pflegebedürftigen Person und deren Familie unter einem Dach und haben keine Möglichkeit, Arbeit und Privatleben zu trennen. Oft fühlen sie sich einsam, fern ihrer Heimat in Mittel- oder Osteuropa. Als „moderne Dienstmädchen“ sind sie in der häuslichen Betreuung rund um die Uhr im Einsatz, ohne dass dies entsprechend vergütet wird. Sie kümmern sich Tag und Nacht um unsere Alten und Kranken, oft auf Kosten ihrer Gesundheit.

Sicher, gute Pflege rund um die Uhr ist teuer. Und ja, die „billige Arbeitskraft aus Osteuropa“ bietet eine Alternative zum Pflegeheim. Doch um welchen Preis? Auch jenseits der Schwarzarbeit sind die meisten Live-in-Kräfte in einer prekären Lage: Weder Krankenversicherung noch bezahlter Urlaub oder Kündigungsschutz kommen in ihren Verträgen vor. Eine Ausbeutung mit System, als gewollter rechtlicher Graubereich. Um der pflegebedürftigen Person ein angenehmes Leben zu ermöglichen, wird die Ausbeutung ihrer Betreuerin in Kauf genommen. Aber: Die Würde des einen Menschen darf nicht gegen die Würde eines anderen Menschen ausgespielt werden!

Doch kaum jemand traut sich, dieses Unrechtssystem anzuprangern. Die betroffenen Frauen haben Angst, fühlen sich vom deutschen Rechtssystem abgeschreckt oder wissen häufig nicht einmal um ihre Rechte. Dobrina D. wollte sich das nicht gefallen lassen. Die bulgarische Seniorenbetreuerin erhielt für eine 30-Stunden-Woche 1000 Euro Netto im Monat, obwohl sie rund um die Uhr in Bereitschaft war. Sie ging vor Gericht und bekam Recht: 40.000 Euro Nachzahlung soll sie erhalten. Im August 2020 hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg das Urteil in zweiter Instanz bestätigt.

In diesem Urteil liegt das Potenzial, eine ganze Branche zu verändern. Eine Branche, in der Menschen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Zu hoffen ist, dass dieser Fall eine Signalwirkung haben wird und auch anderen Live-in-Kräften Mut macht, gegen die unwürdige Behandlung vorzugehen und einen gerechten Lohn einzuklagen.

Claudia Schwarz