Tagungshaus
„Wir brauchen Architekten, nicht nur Feuerwehrleute.“ Die Erkenntnis des früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors möchte man auch heute den Wahlkämpfenden dieses Landes zurufen. Denn wenn in wenigen Tagen die Bundestagswahl entschieden ist und aus Feinden, wenn nicht Freunde, so doch zumindest Koalitionäre werden (müssen), braucht es jenseits des technokratischen Interessenausgleichs und aller parteipolitischen Differenzen den Schulterschluss all derer, die noch eine Vision für ein in seiner kulturellen Vielfalt geeintes Deutschland haben.
Angesichts des Scheiterns einer regierungsunfähigen Koalition der demokratischen Mitte und des Erstarkens völkisch-rechtspopulistischer Gesinnung einer selbsternannten „Alternative“ steht unser Land vor einer historischen Entscheidung. Da kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Vielmehr ist eine tiefgreifende Besinnung auf die Fundamente unserer Demokratie angesagt: Worauf gründen und worauf bauen wir unser „Zukunftsprojekt Deutschland“, wenn nicht auf die „unantastbare Würde“ jedes Menschen und das Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art 1 GG)?!
Es wäre fahrlässig, sich mit schmallippigen Entschuldigungen und flüchtigen hand shakes sogleich wieder ins politische Geschäft zu stürzen. Man darf mit Recht erwarten, dass sich die politischen Verantwortungsträger nach all den ehrverletzenden Äußerungen und manch menschlich unwürdigem Verhalten – im Parlament, auf der Straße, in den Medien – ihrer politischen Verantwortung bewusst sind und den an sie gerichteten Erwartungen gerecht werden; dass sie Haltung zeigen und dem eigenen moralischen Kompass folgen, gerade auch gegenüber einer Anspruchsgesellschaft, die zunehmend in Singularitäten auseinanderfällt. „Versöhnung und Versprechen“ (Hannah Arendt) ist die Devise; denn ohne Versöhnung bleibt eine Gesellschaft gespalten, und ohne verbindliche Versprechen entsteht kein Vertrauen in eine verlässliche Politik.
Gerade als Antwort auf eine raumgreifend übergriffige Arroganz der Macht, die aus den USA herüberschwappt, sollten wir dem Trump‘schen „great again“ selbstbewusst unser deutsches und europäisches Gegenmodell einer menschenfreundlichen Wertegemeinschaft entgegenhalten. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sind ja nicht nur lautstark intonierte Ideale, beschworen vor allem zu sportlichen Anlässen. Sie wären auch heute gültige Parameter für ein Gesellschaftsmodell, in dem die Balance zwischen Einheit und Freiheit, Gemeinwesen und Individualität je neu austariert und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit hochgehalten werden muss, womit wir im Ländervergleich punkten können.
Darauf zielte auch das Wort Jacques Delors‘ von der „Seele Europas“, mit dem er eindringlich auf die ethische Verantwortung der politisch Handelnden abgehoben hat. Ihnen sei nach der Bundestagswahl, sofern sie dann noch im Amt sind, ein Buch empfohlen mit dem schönen Titel: „So wahr mir Gott helfe: Vertrauen, Verantwortung, Zuversicht“. Zugegeben, das Interview-Buch von 2011 mit der damaligen Kanzlerin Merkel hat schon etwas Patina angesetzt. Doch wenn unser Land denn irgendwie wieder aus der Krise kommen sollte, bräuchte es dafür eine neue Erzählung von visionärer – und ja, auch religiöser – Kraft: die Bereitschaft, sich inspiriert und engagiert in den Dienst nationaler Einheit und Versöhnung zu stellen, als Blaupause für eine globale ganzheitliche menschliche Entwicklung, damit die Menschheit – nicht nur in unserem Land – eine Zukunft hat. Dazu braucht es allerdings Politiker, die Architekten sind - und gern auch auf Propheten hören …
Nach der Bundestagswahl braucht es Politiker, die Architekten sind – und gern auch auf Propheten hören, das meint Peter Klasvogt in seinem neuen Stand•PUNKT.