22.08.2024

Soziale Demokratie! Soziale Gerechtigkeit als Aufgabe der Politik

Das System Demokratie hat sich in den letzten Jahren vom Kernauftrag der sozialen Gerechtigkeit entfernt. So die Diagnose der Demokratiekrise des bekannten Kulturkritikers Georg Seeßlen in der jüngsten Ausgabe „Auslaufmodell Demokratie?“ des Wirtschaftsmagazins „agora42“. Tatsächlich scheint viel dafür zu sprechen, dass der Verlust des politischen Auftrags „soziale Gerechtigkeit“ schleichend die Zustimmung zur Demokratie, die Identifizierung mit ihr, aushöhlt.

Die Bemerkung von Seeßlen erinnert an das Gemeinsame Wort „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997. Bereits vor 27 Jahren schrieben die beiden großen Kirchen zur gesellschaftlichen Situation (Nr. 2): „Doch Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene Wertschätzung. Dem Egoismus auf der individuellen Ebene entspricht die Neigung der gesellschaftlichen Gruppen ihr partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen.“ Die Kirchen sehen sich in der Verantwortung „für eine Wertorientierung einzutreten, die dem Wohlergehen dient (…), der Armen, Benachteiligten und Machtlosen, auch der kommenden Generationen und der stummen Kreatur.“ (Nr. 4)

Seeßlen geht insofern über den damaligen Appell der Kirchen hinaus, indem er den Auftrag der sozialen Gerechtigkeit als ausdrücklichen Auftrag der Politik kennzeichnet. Soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht ohne Schaden für die Demokratie an den Markt, die Zivilgesellschaft oder in die Eigenverantwortung delegieren.

Wünschenswert wäre es, sich wieder auf das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes zu besinnen. Der Artikel 20 Grundgesetz, die sogenannte „Verfassung in Kurzform“, hält als erstes fest: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Der frühere Bundesrichter Dieter Hesselberger kommentierte dazu, dass diese „Sozialstaatsklausel des GG“ die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu einem leitenden Prinzip aller staatlichen (!) Maßnahmen erhebt. Den Vätern und vier Müttern unseres Grundgesetzes, eine der besten Verfassungen weltweit, scheint noch bewusst gewesen zu sein, dass in der modernen Demokratie die Sozialpolitik eine Voraussetzung für Markt, Zivilgesellschaft und Eigenverantwortung ist.

Das Soziale hat gegenwärtig kaum eine politische Lobby. Der Sozialstaat sei zu teuer und nicht finanzierbar. Alte Debatten etwa um ein „Lohnabstandsgebot“, „Arbeitsanreizen“ oder die Reduzierung von sozialer Gerechtigkeit auf „Leistungsgerechtigkeit“ werden in populistischen Tönen aufgewärmt - immer in der Überzeugung, dass wenn die Starken gefördert würden für die Schwächeren auch etwas abfalle. Da mag Papst Franziskus solchen „Trickle down-Ökonomien“ widersprechen (etwa Evangelii Gaudium Nr. 54) und mögen die Folgen für das Seelenheil drastisch sein, wie die biblische Erzählung von „dem reichen Mann und armen Lazarus“ (Lk 16, 19-31) schildert. Wen kümmert es?

Demokratie hat nur Bestand als soziale Demokratie. Dem Appell der Kirchen wie auch anderen Stimmen wäre daher mehr Resonanz in der gesellschaftlichen Debatte und im politischen Handeln zu wünschen. Soziale Gerechtigkeit ist eben nicht nur ein Auftrag, sondern Anker einer stabilen Demokratie.